Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen in Deutschland erreichte im Jahr 2023 einen neuen Höchststand. Laut einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts wurden bei mindestens 63.700 Kindern oder Jugendlichen Fälle von Vernachlässigung, psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalt festgestellt. Das entspricht einem Anstieg von rund 2 % im Vergleich zum Vorjahr. Da einige Jugendämter aufgrund technischer Probleme keine Daten melden konnten, schätzen Experten, dass die tatsächliche Zahl sogar bei 67.300 Fällen liegt, was einem Anstieg von bis zu 8 % entspricht.
Das sind 66,37% mehr registrierte Kindeswohlgefährdungen seit 2012 zur Einführung dieser Statistik. Damals waren es noch 38.283 gemeldete Fälle. Dieser kontinuierliche und drastische Anstieg ist mehr als besorgniserregend.
Ursachen des Anstiegs
Dieser langfristige Anstieg der behördlich festgestellten Kindeswohlgefährdungen ist nicht neu: Mit Ausnahme von 2017 und 2021, dem ersten Corona-Jahr, stiegen die Fallzahlen seit der Einführung der Statistik im Jahr 2012 kontinuierlich an. Insbesondere in den Jahren 2018 bis 2020 wurden Anstiege von bis zu 10 % verzeichnet. Diese Entwicklung könnte nicht nur auf eine tatsächliche Zunahme von Kindeswohlgefährdungen zurückzuführen sein, sondern auch auf eine höhere Sensibilität und Anzeigebereitschaft der Öffentlichkeit sowie der Behörden beim Thema Kinderschutz.
Wer ist betroffen?
Im Jahr 2023 waren die betroffenen Kinder im Durchschnitt 8,2 Jahre alt. Jungen bis zum Alter von 12 Jahren waren etwas häufiger betroffen als Mädchen. Ab dem 13. Lebensjahr drehte sich dieses Verhältnis jedoch, und mehr Mädchen gerieten in Gefährdungssituationen. Die Mehrheit der betroffenen Kinder lebte entweder bei alleinerziehenden Elternteilen (39 %) oder bei beiden Eltern gemeinsam (38 %). In etwa 31 % der Fälle waren die Eltern nicht in Deutschland geboren und sprachen zu Hause eine andere Sprache als Deutsch. Besonders alarmierend ist, dass in 73 % der Fälle die Kindeswohlgefährdung hauptsächlich von einem Elternteil ausging.
Arten der Kindeswohlgefährdung
Die häufigste Form der Kindeswohlgefährdung war 2023 die Vernachlässigung, die in 58 % der Fälle festgestellt wurde. Psychische Misshandlungen traten in 36 % der Fälle auf, körperliche Misshandlungen in 27 % und sexuelle Gewalt in 6 %. In knapp einem Viertel aller Fälle waren die Kinder sogar von mehreren Formen der Gewalt gleichzeitig betroffen. Diese Zahlen verdeutlichen, wie gravierend die Situation für viele Kinder in Deutschland ist.
Hinweise und Meldungen
Im Jahr 2023 gingen bei den Jugendämtern insgesamt rund 211.700 Hinweismeldungen zu möglichen Kindeswohlgefährdungen ein. Die meisten Meldungen kamen von Polizei und Justiz (31 %), gefolgt von Hinweisen aus der Bevölkerung (22 %) und aus der Kinder- und Jugendhilfe (13 %). Besonders bemerkenswert: Die zuverlässigsten Meldungen kamen von den betroffenen Kindern selbst. In 60 % der Selbstmeldungen bestätigte sich der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung – doppelt so häufig wie im Durchschnitt aller Meldungen.
Was bedeuten diese Zahlen?
Die steigenden Zahlen sind sowohl ein Alarmsignal als auch ein Hinweis auf die zunehmende Wahrnehmung von Kindeswohlgefährdungen. Neben der möglichen Zunahme von tatsächlichen Gefährdungen zeigt sich, dass Behörden, Schulen, Nachbarn und Angehörige sensibler auf Anzeichen von Kindeswohlgefährdungen reagieren und häufiger handeln.
Es bleibt jedoch eine Herausforderung, sicherzustellen, dass die Jugendämter in der Lage sind, alle Meldungen schnell und umfassend zu prüfen. Der Fachkräftemangel und die Überlastung der Behörden sind dabei ernstzunehmende Probleme, die sich auf den Kinderschutz auswirken können. Auch die technische Infrastruktur, wie der Cyberangriff auf einen IT-Dienstleister, trug 2023 zu einem Teil der Datenlücken bei.
Fazit
Der Anstieg der Kindeswohlgefährdungen in Deutschland im Jahr 2023 verdeutlicht die Notwendigkeit von stärkerem Kinderschutz und einer besseren Ausstattung der Jugendämter. Gleichzeitig zeigen die Zahlen, dass das Bewusstsein für Kinderschutz in der Gesellschaft wächst. Eltern, Schulen, Behörden und auch die Kinder selbst spielen eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, gefährdete Kinder zu identifizieren und zu schützen.