An dieser Stelle, bzw. mit diesem Text, wollen wir euch einen kleinen Einblick in unseren Arbeitsalltag geben. Wir möchten euch von einem Fall erzählen, der zeigt, was drei Monate im Leben eines jungen Menschen bedeuten können und mit welchen moralischen und menschlichen Herausforderungen die Fachkräfte in diesem Arbeitsbereich konfrontiert werden.
Manche Momente in unserer Arbeit sind sehr schwierig, da die Ergebnisse bestimmter Entscheidungsprozesse fatale Folgen für die Zukunft unserer Jugendlichen haben können. Der Träger Lebensstift nutzt seine Möglichkeiten darauf aufmerksam zu machen, welche Missstände in der Jugendhilfe herrschen können. An dieser Stelle soll aber nicht nur kritisiert werden. Mit diesem Artikel verbinden wir viel mehr die Hoffnung, dass sich Entscheidungsträger*innen ihre Entscheidungsprozesse genauer anschauen und verbessern – zum Wohle der Jugendlichen, die sich in hoher Abhängigkeit befinden.
Der geschilderte Fall, erzählt die Geschichte eines Jugendlichen, der als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling im Januar 2017 in unser Betreutes Wohnen gezogen ist. Wir nennen ihn hier und im folgenden Hamza, was soviel bedeutet wie „stark, tapfer“. Und das passt ganz gut zu ihm, finden wir.
Denn Hamza ist ein junger Mann, der seine schwerste Zeit bereits hinter sich hatte. Als er bei uns angekommen ist, hatte er eine lange und schwierige Flucht hinter sich. Er war froh endlich einen sicheren Ort für sich gefunden zu haben. Im betreuten Wohnen bei Lebensstift hatte er die Möglichkeit eine Perspektive für sein Leben in Deutschland zu entwerfen und wieder Ruhe und vielleicht auch ein bisschen Glück zu finden. Da war es ihm auch erstmal egal, dass er sich bei seiner Ankunft in Deutschland, wie viele andere Geflüchtete auch, bei der Ausländerbehörde nicht verständigen konnte und deshalb der 01. Januar als sein Geburtstag in seinem Pass eingetragen wurde. Eigentlich hat Hamza nämlich im März Geburtstag und wird erst dann 21 Jahre alt. Was ihm damals als irrelevanter Datenfehler vorkommt, wird ihm später noch zum Verhängnis werden.
Doch die nächsten Jahre im betreuten Wohnen hat Hamza erst einmal gut für sich genutzt. Er lernte die deutsche Sprache, konnte mit unserer Hilfestellung die Gegebenheiten in Deutschland besser kennenlernen und verstehen, wurde zunehmend selbstständiger und konnte sich Schritt für Schritt eigenständig um seine Angelegenheiten kümmern. Außerdem besuchte er nochmals die Schule um einiges nachzuholen, sodass es ihm zum Schluss sogar gelungen ist einen Ausbildungsberuf zu erlangen.
Jetzt fragt man sich sicherlich, was nun das Problem mit Hamzas Alter ist?
Dazu muss man sich einmal das KHJG (das Kinder- und Jugendhilfegesetz) anschauen. Dort steht unter § 41 SGB VIII Hilfe für junge Volljährige:
„(1) Junge Volljährige erhalten geeignete und notwendige Hilfe nach diesem Abschnitt, wenn und solange ihre Persönlichkeitsentwicklung eine selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbständige Lebensführung nicht gewährleistet. Die Hilfe wird in der Regel nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gewährt; in begründeten Einzelfällen soll sie für einen begrenzten Zeitraum darüber hinaus fortgesetzt werden. Eine Beendigung der Hilfe schließt die erneute Gewährung oder Fortsetzung einer Hilfe nach Maßgabe der Sätze 1 und 2 nicht aus.“
Das heißt im Prinzip, dass im Regelfall die Hilfen für junge Volljährige, also auch die Unterbringung in einer Einrichtung für Betreutes Wohnen, mit dem 21. Lebensjahr beendet werden. Leider wird das KHJG von den Jugendämtern aus Kostengründen oft sehr kleinlich ausgelegt. Eine Hilfe über das 21´te Lebensjahr hinaus zu erhalten ist zwar möglich, oft aber mit sehr hohen Hürden verbunden. Es wird verlangt, dass die Jugendlichen mit ihrem 21´ten Lebensjahr für sich selbstständig sorgen können. Die realen Lebensumstände werden dabei oft außer Acht gelassen.
Da Hamza laut seinem Pass am 01.01.2022 21 Jahre alt geworden ist, wurden ihm also seine Hilfen am 31.12.2021 mit Feuerwerk beendet – kein schöner Start ins neue Jahr.
Dieser Umstand ist vor allem deshalb so tragisch, da Hamza im Laufe des Dezembers seine Ausbildungsstelle verlor und somit auch sein Einkommen. Mit diesem Einkommen wollte er sich seine Wohnung finanzieren. Der Vermieter ließ keinen Verhandlungsspielraum, somit wurde zu Mitte Dezember deutlich: dem Jugendlichen droht die Obdachlosigkeit.
Leider ließ sich auf die Schnelle auch kein anderer Wohnplatz organisieren. Und jetzt kommt der Moment, an dem die Mitarbeiter von Lebensstift sehr schlucken mussten.
Trotz der sich zuspitzenden Umstände, blieb das Jugendamt unerbittlich, gewährte nicht einen Tag Aufschub und beendete Hamza die Hilfe. Dies war für alle Beteiligten unverständlich.
In unserem beschriebenen Fall wird leider sehr deutlich wie unmenschlich manche Ämter die Regelungen des KHJG auslegen.
Lebensstift hat natürlich sofort beschlossen, dass Hamza auch weiterhin im BEW wohnen darf, bis er etwas Neues gefunden hat – kostenfrei. Denn Lebensstift setzt niemanden einfach so auf die Straße – noch dazu im Winter.
Außerdem möchte Lebensstift dies natürlich nicht unkommentiert hinnehmen und wird sich ein Auswertungsgespräch beim zuständigen Jugendamt einfordern.
Doch was wurde inzwischen aus Hamza?
Mitte Januar bekam er endlich gute Nachrichten. Er hat eine neue Wohnung gefunden. Und es kommt noch besser! Da Hamza so sparsam mit seinem Stromverbrauch umgegangen ist, erhielt er eine Rückzahlung von satten 600€. Geld, dass er nun in seine neue Wohnung stecken kann.
Am Freitag den 14.01.2022 verabschiedeten wir ihn also mit einem lachenden und einem weinenden Auge in sein neues Leben.
Du wirst uns fehlen Hamza! Wir wünschen dir eine wundervolle Zukunft!